Niemand sollte vor seinem Tod sterben: Ein Mutmachbuch für Schwerkranke und ihre Angehörigen.

Die Autorin Carolin Tillmann gibt in ihrem Buch „Niemand sollte vor seinem Tod sterben - Ein Mutmachbuch für Schwerkranke und ihre Angehörigen“ schwerkranken Menschen eine Stimme. Sie regt die Leser*innen, und damit meint sie alle Menschen, ob von Krankheit betroffen oder nicht, zur Reflexion über unser Gesundheitssystem und den damit verbundenen Fragen an. Das Leben mit chronischer Erkrankung bringt zahlreiche Probleme mit sich, die von Außenstehenden oftmals gar nicht in ihrem Ausmaß registriert werden, beispielsweise der Verlust des Arbeitsplatzes, finanzielle Sorgen, der Rückzug von Freunden, zunehmende Schwierigkeiten in der Partnerschaft und die stets begleitende frustrierende deutsche Bürokratie. Allen Widrigkeiten zum Trotz schafft es Carolin Tillmann, aus persönlicher Erfahrung heraus, aber auch als Wissenschaftlerin, Wege aufzuzeigen, wie man mit Folgeproblemen einer schweren Erkrankung umgehen kann. Eindrücklich skizziert sie das „Soziale Sterben“ als ein zentrales Problem im Verlauf einer schweren chronischen Erkrankung, den Verlust von Rollenzugehörigkeit, von Anerkennung und von Chancen zur sozialen Teilhabe. Die Verfasserin scheut sich nicht, die Ökonomisierung als Profitbildung in Krankenhäusern, die Ungleichbehandlungen von gesetzlich und privat versicherten Patient*innen sowie die Auswirkungen des Pflegenotstandes zu benennen und mit Zahlen zu belegen. Sie weiß, wovon sie spricht. Anschaulich beschreibt die Autorin ganz unterschiedliche Krankengeschichten und sensibilisiert die Leser*innen für ein wohldosiertes Mitgefühl mit den betroffenen Menschen. Schwere chronische Krankheit ist als eine höchst persönliche Angelegenheit der Patient*innen zu begreifen. Dem häufig geäußerten Satz: „Du musst kämpfen“ kann sie nichts abgewinnen, da diese Rhetorik eine nur durch Willenskraft motivierte Heilungschance suggeriert, die nicht der Wahrheit entspricht.Die vielfältigen Berichte der Betroffenen fokussieren immer wieder auf Problemlagen wie sozialer Abstieg, Isolation, Rechtfertigung der Erkrankung, Einsamkeit durch Rückzug des gewohnten sozialen Umfeldes, Abhängigkeit von Ämtern und Institutionen sowie der großen Angst, nicht ernst genommen zu werden. Analysiert hat Tillmann ca.100 Gespräche mit Schwerkranken, von denen sie in ihrem Buch nur einen Auszug präsentieren kann. Allen gemeinsam, so resümiert sie, sind die leidvollen Erfahrungen mit den Mitmenschen und die herausfordernde Aufgabe, mithilfe neuartiger Strategien die individuelle Lebensqualität zu sichern. Bei den Befragten, die an einer seltenen Erkrankung leiden oder einen langen Weg bis zur Diagnosestellung durchlaufen müssen, wurde nicht selten auf eine psychische Störung verwiesen und der Stigmatisierung waren Tür und Tor geöffnet.

Das Phänomen der Sichtbarkeit von Krankheit beispielsweise durch Nutzung eines Rollstuhls erfährt gesellschaftlich eine bezeichnenderweise höhere Akzeptanz als unsichtbare Symptome, die oftmals sogar größeres Leid bedeuten können. Neben den aufgeführten Problemen schildert die Autorin aber auch Teilhabeaktivitäten und Initiativen der Betroffenen, sei es durch Kontaktaufnahme zu Selbsthilfegruppen, zu Psychotherapeut*innen oder der Austausch in sozialen Medien. Und auch die Mitmenschen sind aufgerufen, Ängste und Unsicherheitenzu überwinden und sich den Kranken zuzuwenden. Der Rückzug des sozialen Umfeldes und somit das Gefühl des Alleinseins ist für alle Betroffenen das schwerwiegendste Problem, so Carolin Tillmann. Die genannten Erfahrungen spiegeln sich auch in den Gesprächen mit pflegenden Angehörigen, die in einem separaten Kapitel aufgeführt werden, wider. Diese müssen sich neben der Sorge um ihre kranken Familienmitglieder mit allen Facetten einer zeitaufwändigen Pflege, Bürokratie und der jeweiligen Veränderung des eigenen Lebens auseinandersetzen. Bevor die Autorin als letzten Teil ihres Buches aktuelle Tipps und praktische Hinweise mit Angabe von Telefonnummern und Websites vermittelt, weist sie auf Möglichkeiten und auf die Verantwortung des Sozialstaats hin, betroffenen schwerkranken Menschen eine bessere Unterstützung zukommen zu lassen, um somit einem sozialen Sterben vorzubeugen.

Carolin Tillmann gelingt ein überzeugendes Plädoyer für die Lebenslagen chronisch kranker Menschen.Ihr Buch macht nachdenklich, wütend und optimistisch zugleich. Eine Empfehlung für alle, die sich den Realitäten desLebensstellen möchten.

Christine Scheve
Referentin Palliative Care
Interdisziplinäres Palliativzentrum
Ev. Krankenhaus Oldenburg

GD Ausgabe 45, Juli 2019

Büchner-Verlag 2019, 189 Seiten, Preis: 18.00 Euro

 

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